„Versuche, dein Leben zu machen“ -

Memoiren einer Holocaustüberlebenden

Der 15. Mai begann für alle Schüler Schloss Torgelows ganz normal. Es war der typische Tagesablauf, mit allem, was dazu gehört: Frühstück, Unterricht, Schulversammlung, wieder Unterricht, Mittagessen, Unterricht, Kaffee und Kuchen und manchmal wieder Unterricht. Doch diesmal gab es eine Besonderheit. Vielleicht haben einige sie schon gesehen, als  sie von Herrn Klein durch Torgelow geführt wurde. Die Rede ist von Margot Friedlander, einer zierlichen Dame von 92 Jahren, die noch sehr lebendig und aufgeschlossen wirkte und eine der letzten Zeitzeugen des Holocaust ist. In der neunten Stunde versammelten sich alle Schüler der 9., 10. Klasse und der K1 im Audimax. Wir wurden schon zuvor über Frau Friedlanders Besuch und Anlass informiert und im ganzen Saal herrschte Stille in Erwartung, was die Zeitzeugin uns erzählen würde. Frau Friedlander begann uns ihre Geschichte aus ihrem Buch „Versuche, dein Leben zu machen“  vorzulesen.  1920 als Kind von jüdischen Eltern geboren, lebte sie gemeinsam mit ihrem Bruder und ihrer Mutter in Berlin. Im Zuge des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung plante sie mit ihrer Familie die Flucht aus Deutschland. Doch dazu kam es tragischerweise nicht. Ihr Bruder Ralph wurde von der Gestapo verhaftet und Margots Mutter folgte ihrem Sohn in die Gefangenschaft. Das einzige, was sie hinterließ, war ein Adressbuch, ihre Bernsteinkette und eine Botschaft, die Margot Friedlanders Leben für immer begleiten würde: „Versuche, dein Leben zu machen!“

Von da an begann Frau Friedlanders Leben im Untergrund. Fünfzehn Monate lang versteckte sie sich bei Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um jüdische Mitbürger vor den Deportationen zu retten. Doch im April 1944 wurde sie entdeckt und nach Theresienstadt  verschleppt.  Sie überlebte den schrecklichen Lageralltag, die harte Arbeit, die schlechte Verpflegung, den ständigen Hunger, lernte Menschen kennen, wie ihren Mann Adolf Friedlander, und wurde schließlich mit vielen anderen Überlebenden von der Roten Armee befreit. Sie heiratete August 1945 und emigrierte mit ihrem Mann nach Amerika. 

Während sie so Auszüge aus ihrem Leben vorlas, wirkte die große Mehrheit im Audimax zutiefst betroffen. Man sah es an den vielen Gesichtern und dem mulmigen Gefühl, dass sich im Saal ausbreitete. Viele fragten sich, wie man angesichts dieser Grausamkeiten die Kraft finden konnte, all das wieder hervorzuholen und die nachfolgenden Generationen darüber aufzuklären. Nachdem Frau Friedlander uns einen Einblick in die Ereignisse vor 60 Jahren gewährt hatte, durften wir sie auch Näheres fragen. Wie stand es beispielsweise mit der Ernährung im Lager? Gab es Außenkontakt? Konnte sie im Nachhinein die Erlebnisse verarbeiten? All das beantwortete Frau Friedlander sehr ausführlich.

Zum Ende ihrer Rede appellierte sie noch an alle Anwesenden im Saal. Sie bat uns: “Und ich bitte euch, seid Menschen! Zeigt Menschlichkeit! Lasst so etwas nie wieder passieren!“  Nach diesen Worten brach im Audimax beifallender Applaus aus. Frau Friedlander  stand ebenfalls auf und schoss ein Foto von uns allen. Daraufhin konnten wir ihr noch persönlichere Fragen stellen, ihr Buch kaufen und es signieren lassen. Auch ich habe „Versuche, dein Leben zu machen“ gekauft und mir ein Autogramm geholt. 

Sie fragte: „Liebes Kind, wie hat dir die Rede gefallen?“

Daraufhin antwortete ich ehrlich: „Sie war sehr schön, aber auch so traurig!“

„Traurig ist das, was uns passiert ist. Eure Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass etwas derart Schreckliches nie wieder geschieht und es nicht weitere Leute wie mich geben muss!“

Das hat auch mich noch lange nachdenklich gestimmt. Frau Friedlander hat Dinge erlebt, die für uns heutzutage nicht mehr vorstellbar sind und dennoch sind sie vor 60 Jahren passiert. Mehr als 6 Millionen Juden wurden in den Konzentrationslagern und Ghettos auf grausame Art und Weise gequält und umgebracht. Diejenigen, die den Holocaust überlebten, litten noch ein Leben lang unter den schrecklichen Dingen, die man ihnen antat. Viele schaffen es bis heute nicht, darüber zu sprechen. Umso mehr bewundere ich deswegen Frau Friedlanders Leistung. Sie hat es geschafft an den Ort zurückzukehren, wo man ihr alles, was ihr lieb und teuer war, genommen hat. Sie hat den Mut gefunden, über ihre Erlebnisse zu berichten. Sie besucht Schulen, um unsere Generationen aufzuklären und um uns weiterzugeben, dass man Menschlichkeit zeigen muss. Und wir müssen es ihr gleichtun. Denn eine Gruppe, wie die Nationalsozialisten, darf jemals wieder die Oberhand über unsere Rechte als Menschen gewinnen. 

Damit so etwas nie wieder passiert.

Marlene Abigail Labs