Wo liegt die Prignitz?

Nach vorjährigen Ausflügen in die Lifestyle-Metropolen Barcelona, Prag und Paris verordnete Rando Geschewski den Teamprojekten Kunst und Schülerzeitung Seminare im Prignitzer Abseits. Unsere spontane Enttäuschung über eine ostdeutsche Kuhblöke war mit perfidem Bedacht als Provokation gemeint und sollte zu aktiver Klausur zwingen: Unbesandten ist ein so abgelegenes wie verträumtes Nest in der brandenburgischen Elbtalaue. Auf historischen Karten ragt genau hier ein Appendix Preußens ins Mecklenburgische und Lauenburgische hinein. Das jahrzehntelange Grenzregime der DDR hielt die Landschaft im Dornröschenschlaf und konservervierte eine zeitlos anmutende Idylle. Willkommener Kontrast zu allem Modernen und Städtischen, zu Trubel, Verkehr und Shopping-Touren. Keine Disco, keine Kneipe, nicht einmal Zigarettenautomaten, Pampa eben.Das alte Bauernhaus, in dem wir Quartier hatten und arbeiteten, grenzt an den Deich; dahinter zieht still die Elbe an langen Buhnenköpfen vorbei nach Hamburg. Man blickt über uralte Eichen zum Fluss, der allzu lange Europa trennte. Schafe blöken, Reiher staksen oberlehrerhaft durchs Gras, und die Katze des Hauses döst auf der Treppe. Friedvoller Herbst, leise Depression der Nachsaison, Nebelschwaden wie in Fantasy-Filmen am Morgen, dann die späte, noch wärmende Sonne über der Lenzener Wische. Melancholie? Eher Luxus der Stille, willkommene, in Torgelow oft vermisste Innerlichkeit, ideale Arbeitsatmosphäre, ein Ort für Besinnung, Konzentration und Gespräche. Kaum vorstellbar, dass auf dem Deich noch vor achtzehn Jahren, also etwa genau vor unserer Lebensspanne, Tag und Nacht die Jeeps der Grenztruppen rollten und die Scheinwerfer der Wachtürme die Dunkelheit an einer der nervösesten Stellen des Kalten Krieges grell durchschnitten.Vormittags arbeiteten wir an Texten, schrieben Entwürfe und redigierten schon vorliegendes Material in einer Schreibwerkstatt, während die „Künstler“ an Skizzen für die neue Außenplastik des Schlossgartens saßen. Insbesondere ging es dabei um das Naturstudium von Blüten und Pflanzen. Mehr darf nicht verraten werden.Wir kamen voran, halten ein paar interessante Ergebnisse in der Hand; aber wir genossen vor allem die Abstinenz von Unterricht, Tests und schulischer Hektik. Obwohl nur etwa siebzig Kilometer Luftlinie von Schloss Torgelow entfernt, fühlten wir uns entrückter als in Ausland. Innerhalb Deutschlands ist die Prignitz so bekannt wie die Rückseite des Mondes.

Das Highlight des ersten Tages bildete ein Werkstattbesuch bei dem Prignitzer Graphiker und Bildhauer Bernd Streiter. Er lebt kauzig verborgen hinterm Mödlicher Deich, bewohnt das Haus des ehemaligen preußischen Wasserstraßenamtes und widmet sich vor allem literatur- und landschaftsinspirierter Graphik und Bronzeskulpturen. Wir blätterten in seinen Drucken und in dem von ihm illustrierten Kinderbuch zur Fontane-Ballade vom warmherzigen Herrn von Ribbeck zu Ribbeck mit seinem berühmten Birnbaum. Der Künstler erläuterte das Drucken von Kaltnadel- und Aquatinta-Radierungen an der Sternradpresse und beschrieb eindrucksvoll den Bronzenguss im Wachsausschmelzverfahren.

Der Nachmittag gehörte Ausflügen in das Prignitzer Umland. Heino Bosselmann kannte die Landschaft als Ort seiner Kindheit. Auf den Steinen des Mellener Hünengrabes in die durchsonnten Linden blinzelnd, erfuhren wir von brandenburgischer Landesgeschichte, stöberten – ein erfrischender Ersatz für Museumsbesuche! – auf einem riesigen und labyrinthaft verstellten Antikhof, fuhren nach Perleberg, einem verträumten Provinzstädtchen, das vor Zeiten sogar zur Hanse gehörte und mit renovierten Bürgerhäusern sein ursprüngliches Gesicht wiederzufinden sucht. Auf einem kleinen Platz, der zur Stepenitz abfällt, befindet sich Bernd Streiters Brunnen, ein Ensemble kleiner Figuren aus Bronze: Erhaben steht eine Gans am Weiher, während eine schlaue Katze einen Spatz am Schweinetrog umschleicht, an dem die dort fressenden Ferkel zu lachen scheinen. Wir besuchten die in brandenburgischen Kiefernwäldern versteckte Plattenburg, ehemalige Residenz der Havelberger Bischöfe, durchstreiften dort die Ruine des alten Knappenhauses und waren verblüfft von der wuchtigen Wunderblutkirche in Bad Wilsnack, einem der wichtigsten Wallfahrtsorte im Spätmittelalter. Dort fanden wir Streiters Plastiken wieder, Skulpturen ärmlicher Pilger, die verwahrlost und elend gen Wilsnack zogen, um im Zeitalter spätmittelalterlicher Frömmigkeit Ablass zu erlangen und Trost und Heilung im düsteren Pestjahrhundert zu suchen. Unsere Kleinbusse rollten schnurgerade Alleenstraßen entlang und durchquerten pittoreske Dörfer, deren Charme seit dem 19. Jahrhundert ungebrochen ist und an denen DDR-Sozialismus wie Wende fast spurlos vorübergegangen scheinen. Es war, als könne man das Aroma der Landschaft einatmen. Wo noch findet man sechsreihige Allen, die die niedrigen Fachwerkhäuschen in ihrem Schatten bergen?

Wer sich aufraffen mochte, joggte morgens auf dem Deich zu einem verträumten und eichengesäumten Elbbrack und erfrischte sich für den Tag im herbstklaren Wasser. Die großen Seminarräume mit ihren riesigen Tischen waren genau das Richtige für Werkstattseminare. Der Pensionswirt, ehemals Geschichtslehrer aus Hamburg, vermietet stets an ganze Gruppen, so dass man unter sich ist und nicht vor dem üblichen Herbergsgekreisch flüchten muss. Abends heizte er den Kamin mit Buchenscheiten und schuf so das Ambiente für abendliche Unterhaltungen, während sich draußen der Vollmond im Elbstrom spiegelte und uns zu Abendspaziergängen lockte. Der Ort lässt sich für andere Vorhaben von Schloss Torgelow empfehlen. Hier kann man mit Zurückgelehntheit und Konzentration arbeiten; hier ist Kontemplation möglich. Am letzten Tag radelten wir auf dem Deich stromabwärts nach Dömitz, um die mecklenburgische Flachlandfestung zu besuchen, in der Fritz Reuter als Opfer der Demagogenverfolgung seine Haftstrafe absitzen musste. Über uns flogen die Kraniche nach Südwesten. Vielleicht über Barcelona nach Afrika. Im Prignitzer Herbst erlebten wir einen Landstrich, den kaum einer bereist. Wir empfanden, dass ein nahes Ziel sehr fern sein kann und dass man gerade dort Erlebnisse und Eindrücke hat, die man in Übersee oder sonst wo in der Ferne vergebens sucht. Die Prignitz ist für uns kein Terra incognita mehr.