Keine heile Welt in der „Nacht nach der Abschlussfeier“



 

Nach 12 Jahren Schule endlich das wohlverdiente Abi in der Tasche! Dieser Tage erleben dies – genau wie am Internatsgymnasium Schloss Torgelow - überall in den Schulen des Landes Schülerinnen und Schüler, die auf der Abschlussfeier ihr Zeugnis überreicht bekommen. Dazu gehören die festlichen Reden der Direktoren ebenso wie die Dankesrede einer (meist) ausgezeichneten Abiturientin. Üblicherweise die pure heile Welt, denn alle sind an diesem Tag glücklich und ziehen Bilanz über einen erfolgreich gemeisterten Lebensabschnitt.
 
 Nicht so die Klassenbeste Julia Studjonzewa (anrührend gespielt von Katharina Bunk) in Wladimir Tendrjakows Stück „Die Nacht nach der Abschlussfeier“, das in dieser Woche von der Schlosstheatertruppe des Torgelower Gymnasiums uraufgeführt wurde. In Julias mutiger und ehrlicher Dankesrede wird deutlich, dass sie trotz ihrer tollen Noten völlig orientierungslos dasteht und – außer der Schule und vielleicht noch ihren Eltern – eigentlich nichts und niemanden wirklich gerne hat. Eine Rede, die vor allem die Lehrer verstört zurücklässt. 
 
 Bemerkenswert, wie die jungen Schauspieler der Klassenstufen 8 bis 11 sich mit Hilfe ihrer Regisseurin Christiane Scherfig in die Welt des Lehrerzimmers hineinversetzt haben. Dort brechen nämlich verschiedene Konflikte über pädagogische Konzepte, die bis dahin sorgsam unter der Oberfläche gehalten wurden, mit aller Schärfe auf: Eine zu Tränen gerührte Grundschullehrerin (Sophie Kampf in einer leisen, emotionalen Rolle) tut sich vor allem selbst leid, weil sie sich von Julia doch so viel erhofft hatte. Die altgediente, von ihren Jahrzehnte alten Methoden immer noch zehrende, spröde und verknöcherte Deutschlehrerin Soja Wladimirowna (von Pauline Kröschel wunderbar gespielt) wird von der autoritären und selbstsüchtigen Schulleitung (sehr überzeugend dargestellt von Anastasija Bräuniger und Sarah Siwonia) attackiert. Soja weiß aber nach Kräften zurückzuschießen, was die eitlen Schulleiterinnen schließlich auch noch gegeneinander aufbringt.
 
 Parallel zu den Konflikten im Lehrerzimmer fliegen auch unter den Schülern, die sich nach den offiziellen Feierlichkeiten im Freundeskreis treffen, die Fetzen. Wie sich zeigt, waren Freundschaften eher Zweckbündnisse, eine vermeintlich zarte Liebesbeziehung offenbart sich als vollkommen gestört. Als Genka Golikow (sehr temperamentvoll gegeben von Julius Berrien) vorschlägt, dass alle sich einmal so richtig offen und schonungslos die Wahrheit sagen sollen, ist er selbst der Leidtragende, denn es zeigt sich, wie wenig aufrichtig alle bisher mit ihm umgegangen waren, weil es doch recht praktisch war, Genka - Jiu-Jitsu-Kämpfer und Sohn eines wohlhabenden Vaters - zum Freund zu haben. Genka wird von allen scharf angegriffen –zunächst ausgerechnet von Vera (einem durch und durch guten, sonst doch so mitleidenden Mädchen, was die jüngste Darstellerin im Team, die talentierte Juliane Knabe, sehr nachvollziehbar verkörperte), später von seinem Freund Igor (sehr ausdrucksstark gespielt von Juliane Lokau), am Ende gar von seiner schönen, aber herzenskalten Freundin Natka (Anastasija Bräuniger – wie andere auch - in einer anspruchsvollen Doppelrolle). Aber Genka schlägt mit verbaler Brutalität zurück, bevor er die Szenerie verlässt. Am Ende droht Genka schlimmes Unheil, was seine Mitschüler nach einigem Zögern offenbar doch noch zur Besinnung kommen lässt. Ob sie ihm aber wirklich helfen werden, lässt das Stück offen.
 
 Dieses anspruchsvolle, ambitionierte Stück mit seinen zum Teil doch recht sperrigen Texten, das vor über 30 Jahren unter ganz anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entstanden ist, in unsere Schulgegenwart gewissermaßen „herüberzuholen“, war ein gewagtes Unternehmen. Dass es Christiane Scherfig mit ihrem Team gelungen ist, davon zeugten die stehenden Ovationen beim Schlussbeifall im vollbesetzten Audimax. Eine verdiente Würdigung der sehr engagierten, konzentrierten und überaus textsicheren Schlosstheatertruppe und der vielen fleißigen Helfer. Stellvertretend für alle seien hier besonders Jens Freise, der die Übergänge zwischen den sechs Szenen am Klavier begleitete, und Patrice Behrend, der für einen reibungslosen technischen Ablauf sorgte, erwähnt.
 
 Alles in allem ein ebenso unterhaltsamer wie anregender Abend, der Schüler wie Lehrer des Internatsgymnasiums Schloss Torgelow sicher ebenso zum Nachdenken brachte wie die zahlreich erschienenen Gäste: Was kann, was soll oder muss Schule leisten, damit junge Abiturienten mit Geistes-, aber auch mit Herzensbildung das vor ihnen liegende Leben meistern können…